Bisweilen stellt es unter Berücksichtigung aller beteiligten Interesse eine unzumutbare Härte dar, wenn der Schuldner eine Unterlassungspflicht sofort beachten muss. In diesem Falle kann ihm vom Unterlassungsgläubiger oder vom Gericht eine Aufbrauchfrist gewährt werden. In der Praxis ist die Gewährung einer Aufbrauchfrist, inbesondere im Wettbewerbsrecht, in dem es auch meist um Interessen der Allgemeinheit geht, eine Ausnahme.
BGH, Urt. v. 7.4.2022, I ZR 143/19, Tz. 57 f – Knuspermüsli II
Dem Schuldner eines Unterlassungsanspruchs kann nach § 242 BGB eine Aufbrauchfrist gewährt werden.
Voraussetzung dafür ist, dass ihm durch ein sofort mit der Zustellung des Titels uneingeschränkt zu beachtendes Verbot unverhältnismäßige Nachteile entstehen und die Belange sowohl des Gläubigers als auch der Allgemeinheit durch eine befristete Fortsetzung des Wettbewerbsverstoßes nicht unzumutbar beeinträchtigt werden.
BGH, Urt. v. 7.4.2022, I ZR 143/19, Tz. 59 – Knuspermüsli II
Der Beklagte muss substantiiert darlegen, dass die Voraussetzungen für die Gewährung einer Aufbrauchfrist vorliegen. Insbesondere muss er darlegen, in welchem Zeitraum er die Umstellung und den Aufbrauch bewerkstelligen kann.
BGH, Urt. v. 7.4.2022, I ZR 143/19, Tz. 60 ff – Knuspermüsli II
Die Entscheidung über die Einräumung einer Aufbrauchfrist erfordert eine Interessenabwägung.
Hierbei ist insbesondere zu berücksichtigen, inwieweit den Beklagten ein Verschulden trifft.
Zu seinen Gunsten kann sich dabei auswirken, dass er das streitgegenständliche Verhalten längere Zeit unbeanstandet vorgenommen hat.
Eine Verurteilung in den Vorinstanzen kann aber dazu führen, dass der Beklagte sich auf einen ungünstigen Ausgang auch des Revisionsverfahrens einstellen konnte und musste. Weniger strenge Anforderungen können im Fall eines Angriffs gegen die Firmierung des Beklagten gelten.
OLG München, Urt. v. 30.9.2021, 6 U 6754/20, Tz. 258 – muenchen.de
Die Gewährung einer Aufbrauchs- oder Umstellungsfrist nach § 242 BGB kommt in Betracht, wenn dem Schuldner durch ein sofortiges Verbot unverhältnismäßige Nachteile entstünden und die Belange sowohl des Gläubigers als auch der Allgemeinheit durch eine befristete Fortsetzung der Wettbewerbswidrigkeit nicht unzumutbar beeinträchtigt werden, was im Rahmen einer umfassenden Abwägung der Interessen des Schuldners auf der einen sowie des Gläubigers und der Allgemeinheit auf der anderen Seite festzustellen ist (Bornkamm in Köhler/Bornkamm/Feddersen aaO § 8 Rn. 1.88 und 1.91). Bei der Abwägung ist auf der Seite des Schuldners neben dem Grad seines Verschuldens und der Schwere etwaiger Nachteile insbesondere der Zeitfaktor von entscheidender Bedeutung, d.h. es ist danach zu fragen, ab wann er mit dem Verbot rechnen musste und ob er Gelegenheit hatte, sich auf das drohende Verbot einzurichten. Die Frage macht deutlich, dass eine Aufbrauchsfrist am dringendsten benötigt wird, wenn der Schuldner durch das gerichtliche Verbot quasi überrascht wird, also dann, wenn das gerichtliche Unterlassungsgebot am Anfang der Auseinandersetzung steht, wie es häufig im Verfahren der einstweiligen Verfügung der Fall ist, zumal wenn dem Verfügungsantrag keine Abmahnung vorausgegangen ist.
Ebenso OLG München, Urt. v. 4.5.2023, 29 U 619/22, Tz. 50 - Mandelerzeugnis
OLG München, Urt. v. 4.5.2023, 29 U 619/22, Tz. 52 f - Mandelerzeugnis
Auf der Seite des Schuldners ist zunächst von Bedeutung, wie schwer sein Verschulden wiegt. Liegt ihm – was im Wettbewerbsrecht im Hinblick auf die großzügige Bejahung eines schuldhaften Rechtsirrtum freilich nur selten vorkommt – überhaupt kein oder nur ein geringes Verschulden zur Last, stellt dies sein Interesse an der Aufbrauchsfrist in ein günstiges Licht. Umgekehrt kann ein Schuldner kaum den Schutz seiner Interessen beanspruchen, wenn er den zugrundeliegenden Verstoß vorsätzlich oder grob fahrlässig begangen hat. In erster Linie muss der Schuldner darlegen können, dass er durch den sofortigen Vollzug des Verbots schwere Nachteile erleiden würde. Daneben ist der Zeitfaktor von entscheidender Bedeutung.
Auf der Gegenseite ist zunächst zu fragen, in welcher Weise der Gläubiger durch den Verstoß betroffen ist. Wird der Unterlassungsanspruch von einem Verband geltend gemacht, ist – je nach Schutzrichtung der verletzten Norm – auf die Interessen der Mitbewerber oder der Marktgegenseite abzustellen. Es ist zu fragen, ob die geschützten Interessen der Mitbewerber und der Marktgegenseite, insbesondere der Verbraucher, durch die Gewährung der Aufbrauchsfrist erheblich beeinträchtigt werden. In Fällen der Irreführung kann nicht etwa stets von einer solchen Beeinträchtigung ausgegangen werden. Vielmehr gibt es durchaus Fälle, in denen ein kurzer Aufschub bei der Durchsetzung des Verbots die Mitbewerber- und Verbraucherinteressen nur marginal berührt. Mit dem Schutzbedürfnis der Allgemeinheit kann zuweilen auch das Interesse an der Verfügbarkeit des Produkts verquickt sein (Köhler/Bornkamm/Feddersen/Bornkamm, UWG, 41. Aufl., § 8, Rn. 1.91-1.95).
OLG Düsseldorf, Urt. v. 21.3.2013, I-2 U 92/11, Tz. 85f
Bei der Aufbrauchsfrist handelt es sich um eine materiell-rechtliche Einschränkung des Unterlassungsanspruchs; sie betrifft nicht die Tatbestandsseite des Verbots, sondern nur die Rechtsfolge. Die Gewährung der Aufbrauchsfrist ändert daher nichts daran, dass es sich um ein rechtswidriges Verhalten handelt, das auch einen Schadensersatzanspruch nach sich ziehen kann (BGH GRUR 1960, 563, 567 – Alterswerbung; GRUR 1974, 735, 737 – Pharmamedan; GRUR 1982, 420, 423 – BBC/DDC).
Für eine Aufbrauchfrist ist erforderlich, dass dem Schuldner durch ein unbefristetes Verbot unverhältnismäßige Nachteile entstünden und die Belange sowohl des Gläubigers als auch der Allgemeinheit durch eine befristete Fortsetzung des wettbewerbswidrigen Verhaltens nicht unzumutbar beeinträchtigt werden (BGH GRUR 1974, 474, 476 – Großhandelshaus; GRUR 1982, 425, 431 – Brillen-Selbstabgabestellen; GRUR 1990, 522, 528 – HBV-Familien- und Wohnungsrechtsschutz). Dies setzt eine Abwägung der Interessen des Schuldners auf der einen sowie des Gläubigers und der Allgemeinheit auf der anderen Seite voraus.
Auf der Seite der Beklagten ist von Bedeutung, wie schwer ihr Verschulden wiegt (Köhler/Bornkamm, UWG § 8 Rn 1.62).
OLG Hamm, Urt. v. 4.9.2014, 4 U 77/14, Tz. 94
Die Bewilligung einer Aufbrauchsfrist – bei der es sich dogmatisch um eine auf § 242 BGB basierende materiell-rechtliche Beschränkung des Unterlassungsanspruches handelt (Köhler/Bornkamm/Bornkamm, § 8 Rdnr. 1.59 m.w.N.) – setzt voraus, dass dem Schuldner durch ein sofort wirksames Verbot unverhältnismäßige Nachteile entstünden und die Belange sowohl des Gläubigers als auch der Allgemeinheit durch eine – befristete – Fortsetzung des wettbewerbswidrigen Verhaltens nicht unzumutbar beeinträchtigt werden (Köhler/Bornkamm/Bornkamm, § 8 Rdnr. 1.58 m.w.N.).
Ebenso OLG Düsseldorf, Urt. v. 13.12.2018, I-2 U 37/18, Tz. 89; OLG Frankfurt, Beschl. v. 16.1.2020, 6 W 116/19, II.6.1
OLG Celle, Urt. v. 22.10.2015, 13 U 123/14, B.III
Eine Aufbrauchfrist ist (von Amts wegen) einzuräumen, wenn dem Schuldner durch ein unbefristetes Verbot unverhältnismäßige Nachteile entstünden und die Belange sowohl des Gläubigers als auch der Allgemeinheit durch eine befristete Fortsetzung der Wettbewerbswidrigkeit nicht unzumutbar beeinträchtigt werden (BGH, Urt. v. 16.11.1973, I ZR 98/72, Tz. 23).
Sehr großzügig:
OLG Koblenz, Urt. v. 4.6.2016, 9 U 1324/13
Der Beklagten ist eine Aufbrauchfrist bis zum ... zu gewähren. Durch ein unbefristetes Verbot entstünden der Beklagten unverhältnismäßige Nachteile, weil die Kataloge für die angebotenen Reisen langfristig und kostenaufwendig konzipiert und produziert werden. Der derzeit geltende Katalog hat eine Laufzeit bis ..., so dass es angemessen ist, die Aufbrauchfrist bis zu diesem Zeitpunkt zu erstrecken. Ein Überkleben der unzulässigen Preisangaben mit dem zutreffenden Endpreis wäre mit einem unzumutbaren Aufwand verbunden. Da das Serviceentgelt getrennt ausgewiesen ist und somit der Endpreis auf diese Weise durch den Verbraucher errechnet werden kann, werden auch die Interessen der Allgemeinheit durch eine befristete Fortsetzung des wettbewerbswidrigen Verhaltens nicht unzumutbar beeinträchtigt (vgl. zu den Voraussetzungen der Aufbrauchfrist: OLG Düsseldorf, GRUR-RR 2014, 1 ff.). In diesem Zusammenhang ist auch der Umstand zu berücksichtigen, dass Mitglieder des Klägers in gleicher Weise werben wie die Beklagte.
Eine Aufbrauchfrist kann auch im einstweiligen Verfügungsverfahren gewährt werden:
OLG Frankfurt, Beschl. v. 16.1.2020, 6 W 116/19, II.6.2
Einer Aufbrauchfrist im Eilverfahren steht nicht eine besondere Dringlichkeit der Sache entgegen (so auch Köhler/Bornkamm/Feddersen/Bornkamm, 38. Aufl. 2020, UWG § 8 Rnr. 1.96-1.98; Berlit WRP 1998, 250, 251 f.; Ulrich WRP 1991, 26, 28 f.; Berneke/Schüttpelz Rdn. 354; KG GRUR 1972, 192; OLG Stuttgart WRP 1989, 832; WRP 1993, 536; a.A. noch Senat, WRP 1988, 110, 113). Es sind keine Argumente erkennbar, warum nicht auch im Eilverfahren eine derartige Einschränkung des Unterlassungsanspruchs in Betracht kommen soll. Das Eilverfahren soll nur das Risiko ausgleichen, dass eine Entscheidung im Hauptsacheverfahren für den Gläubiger zu spät kommt und ein endgültiger Rechtsverlust eintritt. Es kann indes dem Gläubiger keinen weitergehenden Unterlassungsanspruch verschaffen als ein Hauptsacheverfahren.
Zur Aufbrauchfrist in der Berufungsinstanz:
OLG Hamburg, Beschl. v. 22.9.2023, 3 W 30/23, Tz. 20
Von der Gewährung einer Aufbrauchs- bzw. Umstellungsfrist hat der Senat abgesehen .... Der Antragsgegnerin ist spätestens seit der Abmahnung der Antragstellerin vom ... bekannt, dass die Antragstellerin den Vertrieb der streitigen App beanstandet. Sie hätte daher die notwendigen Maßnahmen ergreifen können, um für den Fall, dass es im Rahmen der gerichtlichen Auseinandersetzung zu einem Vertriebsverbot kommen würde, die Vertriebseinstellung vorzubereiten oder (für ihr Medizinprodukt) unter Beteiligung der Benannten Stelle ein Konformitätsbewertungsverfahren nach Klasse IIa einzuleiten. ... Dabei ist schließlich auch zu bewerten, dass es um Belange des Gesundheitsschutzes geht.
OLG Celle, Urt. v. 22.10.2015, 13 U 123/14, B.III
Die Beklagte wurde bereits in der Vorinstanz zu einer Unterlassung verurteilt und konnte sich daher auf einen ihr ungünstigen Ausgang des Berufungsverfahrens einstellen (vgl. zu diesem Gesichtspunkt BGH, Urt. v. 16.11.1973, I ZR 98/72, Tz. 23; OLG Köln, Urt. v. 18.12.1998, 6 U 56/98, Tz. 42; KG, Urt. v. 18.9.1998, 25 U 6073/97, Tz. 52; nicht ausreichend wäre demgegenüber allein der Umstand der Rechtshängigkeit: BGH, Urt. v. 29.3.2007, I ZR 122/04, Tz. 40).
OLG Celle, Urt. v. 23.2.2023, 13 U 15/22, III.
Bei der erforderlichen Interessenabwägung ist zu berücksichtigen, dass der Beklagten jedenfalls seit ihrer Verurteilung durch das Landgericht ... ein Verschulden vorzuwerfen ist. Für die Annahme eines zumindest fahrlässigen Verhaltens reicht es aus, dass sich der Verletzer erkennbar in einem Grenzbereich des rechtlich Zulässigen bewegt und deshalb eine von der eigenen Einschätzung abweichende Beurteilung der rechtlichen Zulässigkeit seines Verhaltens jedenfalls in Betracht ziehen muss.
OLG Düsseldorf, Urt. v. 13.12.2018, I-2 U 37/18, Tz. 90
Dass die Beklagten spätestens seit dem landgerichtlichen Urteil wissen, dass sie möglicherweise dazu verpflichtet sind, die Firmierung zu ändern, steht der Gewährung einer Aufbrauchfrist nicht per se entgegen (BGH, GRUR 2007, 1079, 1083 – Bundesdruckerei). Allerdings ist im Rahmen der vorzunehmenden Interessenabwägung zu berücksichtigen, dass sich derjenige, der in der Vorinstanz verurteilt wurde, auch auf einen ungünstigen Ausgang des Rechtsmittelverfahrens einstellen kann und muss, so dass die Interessenlage in den Rechtsmittelinstanzen häufig die Gewährung einer Aufbrauchs- oder Umstellungsfrist nicht gebietet (BGH, GRUR 1974, 474, 476 – Großhandelshaus).
OLG München, Urt. v. 30.9.2021, 6 U 6754/20, Tz. 259 – muenchen.de
Vorliegend musste die Beklagte spätestens mit der Zustellung des landgerichtlichen Urteils am 20.11.2020, allerspätestens jedoch mit der Zustellung des Beschlusses des Senats vom 05.07.2021, mit welchem der Antrag der Beklagten auf einstweilige Einstellung der Zwangsvollstreckung zurückgewiesen und in der Begründung ausgeführt wurde, dass das Urteil des Landgerichts nach summarischer Prüfung durch den Senat jedenfalls nicht offensichtlich fehlerhaft ist, damit rechnen, dass sie das Stadtportal in der streitgegenständlichen Form nicht weiterbetreiben darf.
OLG München, Urt. v. 4.5.2023, 29 U 619/22, Tz. 54 - Mandelerzeugnis
Der Zeitfaktor spricht gegen eine Aufbrauchsfrist, weil die Beklagte diese erst in zweiter Instanz beantragt hat und zwischen dem sorgfältig und fundiert begründeten landgerichtlichen Urteil, das zudem auf zwei Unterlassungsaussprüche gestützt war, und dem Termin zur mündlichen Verhandlung in der Berufungsinstanz nahezu eineinhalb Jahre lagen, in denen sie sich auf eine Unterlassungspflicht hätte einrichten können.
OLG Zweibrücken, Urt. v. 31.3.2022, 4 U 201/21, Tz. 28
Zwar musste sich die Beklagte nach der Klageabweisung in erster Instanz nicht unmittelbar darauf einstellen, ihren Online- Shop umzustellen (vgl. hierzu BGH GRUR 1974, 474 - Großhandelshaus). Die - wenn auch nur vorläufig geäußerte - gegenteilige Rechtsauffassung des Berufungsgerichts war der Beklagten aus den Hinweisen in der Ladungsverfügung vom 18.02.2022 bekannt. Demgegenüber fallen die Interessen des Klägers an der Beendigung der unlauteren Werbung umso stärker ins Gewicht, als er den Anspruch der Allgemeinheit auf Schutz vor irreführender Werbung anführen kann, der gerade im Bereich der gesundheitsrelevanten Werbung von besonderer Bedeutung ist.