BGH, Urt. v. 14.1.2010, I ZR 67/07, Tz. 15 - Zimtkapseln
Stoffe, die zwar auf den menschlichen Körper einwirken, sich aber nicht nennenswert auf den Stoffwechsel auswirken und somit dessen Funktionsbedingungen nicht wirklich beeinflussen, dürfen nicht als Funktionsarzneimittel eingestuft werden. Der Begriff des Funktionsarzneimittels soll nur diejenigen Erzeugnisse erfassen, deren pharmakologische Eigenschaften wissenschaftlich festgestellt und die tatsächlich dazu bestimmt sind, eine ärztliche Diagnose zu erstellen oder physiologische Funktionen wiederherzustellen, zu bessern oder zu beeinflussen. Enthält ein Erzeugnis im Wesentlichen einen Stoff, der auch in einem Lebensmittel in dessen natürlichem Zustand vorhanden ist, so gehen von ihnen keine nennenswerten Auswirkungen auf den Stoffwechsel aus, wenn bei einem normalen Gebrauch des fraglichen Erzeugnisses seine Auswirkungen auf die physiologischen Funktionen nicht über die Wirkungen hinausgehen, die ein in angemessener Menge verzehrtes Lebensmittel auf diese Funktionen haben kann. Es kann dann nicht als ein Erzeugnis eingestuft werden, das die physiologischen Funktionen wiederherstellen, bessern oder beeinflussen könnte. Der Gerichtshof der Europäischen Union hat demgemäß die Arzneimitteleigenschaft eines Knoblauchextrakt-Pulvers, das bei angabegemäßer Dosierung dieselbe Menge Allicin enthielt wie 7,4 g roher frischer Knoblauch, mit der Begründung verneint, die physiologischen Wirkungen des Pulvers könnten auch durch den Verzehr der entsprechenden Menge Knoblauch als Lebensmittel erzielt werden (EuGH GRUR 2008, 271 Tz. 66 - Knoblauchkapseln).
OLG Celle, Urt. v. 2.2.2017, 13 U 153/15, II.1.b.aa
Gemäß § 2 Abs. 1 AMG sind Arzneimittel Stoffe oder Zubereitungen aus Stoffen, die entweder - Nr. 1 - zur Anwendung im oder am menschlichen oder tierischen Körper und als Mittel mit Eigenschaften zur Heilung oder Linderung oder zur Verhütung menschlicher oder tierischer Krankheiten oder krankhafter Beschwerden bestimmt sind (sog. Präsentationsarzneimittel) oder - Nr. 2. - die in oder am menschlichen oder tierischen Körper angewendet oder einen Menschen oder Tier verabreicht werden können, um entweder - lit. a - die physiologischen Funktionen durch eine pharmakologische, immunologische oder metabolische Wirkung wiederherzustellen, zu korrigieren oder zu beeinflussen oder - lit. b - eine medizinische Diagnose zu erstellen (sog. Funktionsarzneimittel).
Demgegenüber fallen gem. § 2 Abs. 3 Nr. 1 AMG insbesondere Lebensmittel im Sinne des § 2 Abs. 2 des Lebensmittel- und Futtermittelgesetzbuches (LFGB) nicht unter den Begriff des Arzneimittels. Gemäß § 2 Abs. 2 LFGB sind Lebensmittel solche im Sinne des Art. 2 der Verordnung (EG) Nr. 178/2002. Lebensmittel im Sinne der Verordnung sind alle Stoffe oder Erzeugnisse, die dazu bestimmt sind oder von denen nach vernünftigem Ermessen erwartete werden darf, dass sie in verarbeitetem, teilweise verarbeitetem oder unverarbeitetem Zustand vom Menschen aufgenommen werden. Nicht zu den Lebensmitteln gehören Arzneimittel im Sinne der Richtlinie 65/65/EWG und der Richtlinie 92/73/EWG (die Sonderregelunge für homöopathische Arzneimittel enthält). Nach Art. 1 Nr. 2 der Richtlinie 65/65/EWG sind Arzneimittel alle Stoffe oder Stoffzusammensetzungen, die als Mittel zur Heilung oder zur Verhütung menschlicher oder tierischer Krankheiten bezeichnet werden, d.h. alle Stoffe oder Stoffzusammensetzungen, die dazu bestimmt sind, am menschlichen oder tierischen Körper zur Erstellung einer Ärztlichen Diagnose oder zur Wiederherstellung, Besserung oder Beeinflussung menschlicher oder tierischer Köperfunktionen angewandt zu werden.
Ein Nahrungsergänzungsmittel ist gemäß § 1 Abs. 1 Nr. 1 bis 3 Nahrungsergänzungsmittelverordnung (NemV) ein Lebensmittel, das (Nr. 1.) dazu bestimmt ist, die allgemeine Ernährung zu ergänzen, (Nr. 2.) ein Konzentrat von Nährstoffen oder sonstigen Stoffen mit ernährungsspezifischer oder physiologischer Wirkung allein oder in Zusammensetzung darstellt und (Nr. 3.) in dosierter Form, insbesondere in Form von Kapseln, Pastillen, Tabletten, Pillen und anderen Ähnlichen Darreichungsformen zur Aufnahme in angemessenen kleinen Mengen, in den Verkehr gebracht wird. Gem. Abs. 2 der Vorschrift sind Nährstoffe im Sinne der Verordnung Vitamine und Mineralstoffe, einschließlich Spurenelemente.
OLG Celle, Urt. v. 2.2.2017, 13 U 153/15, II.1.b.bb
Entscheidend für die Einordnung eines Produkts als Arzneimittel oder Lebensmittel ist seine an objektive Merkmale anknüpfende überwiegende Zweckbestimmung, wie sie sich für einen durchschnittlich informierten, aufmerksamen und verständigen Durchschnittsverbraucher darstellt (BGH, Urt. v, 10.2.2000, I ZR 97/98, Tz. 27). Die Verkehrsanschauung knüpft regelmäßig an eine schon bestehende Auffassung über den Zweck vergleichbarer Mittel und ihre Anwendung an, die wiederum davon abhängt, welche Verwendungsmöglichkeiten solche Mittel ihrer Art nach haben. Die Vorstellung der Verbraucher von der Zweckbestimmung eines Produkts kann weiter durch die Auffassung der pharmazeutischen oder medizinischen Wissenschaft beeinflusst sein, ebenso durch die dem Mittel beigefügten oder in Werbeprospekten enthaltenen Indikationshinweise und Gebrauchsanweisungen sowie die Aufmachung, in der das Mittel dem Verbraucher allgemein entgegentritt (BGH, a. a. O., m.w.N). Ein verständiger Durchschnittsverbraucher wird im Allgemeinen nicht annehmen, dass ein als Nahrungsergänzungsmittel angebotenes Präparat tatsächlich ein Arzneimittel ist, wenn es in der empfohlenen Dosierung keine pharmakologische Wirkung hat (BGH, a. a. O., Tz. 28). An dieser Auffassung hat der Bundesgerichtshof auch nach Änderung des Arzneimittelbegriffs durch Art. 1 Nr. 1 der Richtlinie 2004/27/EG festgehalten (vgl. BGH, Urt. v. 26.6.2008, I ZR 61/05, Tz. 29).
Nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union ist der Begriff des Arzneimittels weit auszulegen. Dies gilt auch für Funktionsarzneimittel (EuGH, Urt. v. 16.4.1991, C-112/89, Tz. 17 bis 21; Urt. v. 20.9.2007, C-84/06, Tz. 31). Ein Produkt ist hiernach als Funktionsarzneimittel anzusehen, wenn es aufgrund seiner Zusammensetzung - einschließlich der Dosierung seiner Wirkstoffe - und bei bestimmungsgemäßem Gebrauch physiologische Funktionen des Menschen in signifikanter Weise wiederherstellen, korrigieren oder beeinflussen kann (vgl. Urteile vom 6.9.2012, C-308/11, Tz. 35, und vom 15.1.2009, C-140/07, Tz. 42).
Bei der Entscheidung der Frage, ob ein Erzeugnis unter die Definition des Funktionsarzneimittels fällt, sind alle Merkmale des Erzeugnisses zu berücksichtigen, insbesondere seine Zusammensetzung, seine pharmakologischen, immunologischen oder metabolischen Eigenschaften, wie sie sich beim jeweiligen Stand der Wissenschaft feststellen lassen, die Modalitäten seines Gebrauchs, der Umfang seiner Verbreitung, seine Bekanntheit bei den Verbrauchern und die Risiken, die seine Verwendung mit sich bringen kann (BGH, Beschl. v. 18.10.2012, I ZR 38/12, Tz. 7; Urt. v. 8.1.2015, I ZR 141/13, Tz. 11; EuGH, Urt. v. 6.9.2012, C-308/11, Tz. 33).
Enthält ein Erzeugnis im Wesentlichen einen Stoff, der auch in einem Lebensmittel in dessen natürlichem Zustand vorhanden ist, so besitzt es keine nennenswerten Auswirkungen auf den Stoffwechsel, wenn bei einem normalen Gebrauch des fraglichen Erzeugnisses seine Auswirkungen auf die physiologischen Funktionen nicht über die Wirkungen hinausgehen, die ein in angemessener Menge verzehrtes Lebensmittel auf diese Funktionen haben kann (BGH, Urt. v. 26.6.2008, I ZR 61/05, Tz. 19; EuGH, Urt. v. 30.4.2009, a. a. O., Tz. 22). Ferner sind vom Begriff des Arzneimittels keine Stoffe erfasst, deren Wirkungen sich auf eine schlichte Beeinflussung der physiologischen Funktionen beschränken, ohne dass sie geeignet wären, der menschlichen Gesundheit unmittelbar oder mittelbar zuträglich zu sein (vgl. EuGH, Urt. v. 10.7.2014, C-358/13 und C-181/14, Tz. 37 f.).
Am Beispiel von Hormonen, insbesondere Melatonin:
OLG Celle, Urt. v. 2.2.2017, 13 U 153/15, II.1.b.cc
Die Gabe von Melatonin soll einen - durch Verschiebung des Schlaf-Wach-Rhythmus etwa bei Schichtarbeit oder infolge von Jetlag oder aufgrund altersbedingter Probleme - gestörten Schlaf positiv beeinflussen, indem zusätzlich zu dem natürlich produzierten, aber zur Herbeiführung der Schläfrigkeit nicht genügenden Melatonin weiteres Melatonin verabreicht wird. Eine Beeinflussung von physiologischen Funktionen in signifikanter Weise ist danach ohne weiteres zu bejahen. ...
... Dass es sich bei Melatonin in Form der "S."-Kapseln um ein zusätzlich verabreichtes Hormon handelt, das auch natürlicherweise im Körper produziert wird, spricht für und nicht gegen seine pharmakologische Wirkung. Jedenfalls wird vertreten, dass es sich bei Hormonen per se um Funktionsarzneimittel im Sinne von § 2 Abs. 1 Nr. 2 lit. a AMG handelt (vgl. Rehmann, a. a. O., § 2 Rn. 17). Dies liegt - denkt man etwa an hormonbasierte Kontrazeptiva - ungeachtet von Art. 5 Abs. 4 Satz 4 der Richtlinie 2001/83 - oder Morphinpräparate, deren pharmakologische Wirkung der Sachverständige ... bestätigt hat, auch nahe.
Präsentationsarzneimittel vs, Lebenmittel für besondere medizinische Zwecke
BVerwG, Urt. v. 17.9.2021, 3 V 20.20, Tz. 23 ff
Wird ein Erzeugnis als Lebensmittel für besondere medizinische Zwecke in den Verkehr gebracht, sind die für derartige Lebensmittel verpflichtenden Angaben grundsätzlich nicht geeignet, die Eigenschaft des Erzeugnisses als Präsentationsarzneimittel zu begründen.
... Grundsätzlich kann nicht davon ausgegangen werden, dass ein verständiger Durchschnittsverbraucher ein ausdrücklich als Lebensmittel für besondere medizinische Zwecke angebotenes Präparat für ein Arzneimittel halten wird (vgl. BVerwG, Urt. v. 25.7.2007, 3 C 21.06). Hierfür bedarf es besonderer, zusätzlicher Umstände.
Aus den Pflichtangaben der diätetischen Lebensmittel für besondere medizinische Zwecke ergeben sich keine solchen Umstände. Gemäß Art. 4 Abs. 4 Buchst. a der Richtlinie 1999/21/EG i.V.m. § 21 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 Diätverordnung müssen diätetische Lebensmittel für besondere medizinische Zwecke u.a. den Hinweis enthalten "'Zur diätetischen Behandlung von ...', ergänzt durch die Krankheit(en), Störung(en) oder Beschwerden, für die das Erzeugnis bestimmt ist". Auch nach Art. 11 Abs. 1 der Nachfolge-Verordnung (EU) Nr. 609/2013 i.V.m. Art. 5 Abs. 2 Buchst. e der Delegierten Verordnung (EU) 2016/128 ist der Hinweis: "'Zum Diätmanagement bei ...' ergänzt durch die Krankheit, die Störung oder die Beschwerden, für die das Erzeugnis bestimmt ist", verpflichtend.
Die hieraus folgende Präsentation, mit der ein Bezug zu einer Grunderkrankung hergestellt wird, darf daher nicht zur Zuschreibung einer Arzneimitteleigenschaft führen (vgl. BGH, Urt. v. 30.11.2011, I ZR 8/11, Rn. 12; OLG München, Urt. v. 31.10.2019, 29 U 2177/19). Mit solchen Angaben erweckt der Hersteller nicht den Anschein eines Arzneimittels, sondern weist die gesetzlich vorgesehene Zweckbestimmung eines Lebensmittels für besondere medizinische Zwecke aus (vgl. zur entsprechenden Lage bei der Abgrenzung zu Medizinprodukten BVerwG, Beschl. v. 20.5.2021, 3 C 19.19, Rn. 19).
Bei der gebotenen Gesamtschau kann sich allerdings auch ein als Lebensmittel für besondere medizinische Zwecke in den Verkehr gebrachtes Erzeugnis als Präsentationsarzneimittel erweisen. Die Kennzeichnung mit den Pflichtangaben der Lebensmittel für besondere medizinische Zwecke ist dabei indes nicht heranzuziehen. Sofern die Inanspruchnahme einer diätetischen Behandlung zweifelhaft erscheint - etwa, weil der Zusammenhang eines Diätmanagements mit den in Bezug genommenen Beschwerden nicht erkennbar ist - besteht aber Anlass, alle Umstände des konkreten Einzelfalls genau in den Blick zu nehmen. Im Zusammenhang mit anderen Umständen, also soweit es nicht um die Zweckbestimmung "Zur diätetischen Behandlung von" bzw. "Zum Diätmanagement bei" geht, können im Rahmen der Gesamtbetrachtung auch die in Bezug genommenen Krankheiten und Beschwerden herangezogen werden.